Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs

Von Sommer 1940 bis zum deutschen Angriff auf die UdSSR 1941

Alles, was über den ‚Überraschungsangriff‘ geschrieben wurde, ist falsch. Wir kannten den Barbarossa-Plan, bevor er ausgeführt wurde. … Alle Geheimdienstberichte zeigten, daß der Konflikt 1941 kommen würde. Mein Vater hatte die deutschen Pläne und Vasilevskij, damals der Chef der Planungsabteilung beim Generalstab, kam oft zu uns nach Hause, um diese Pläne gemeinsam mit ihm zu studieren. Er blieb beinah einen Monat beim NKWD, um ‚Barbarossa‘ zusammen mit einer Gruppe von Offizieren zu studieren. „

Sergo Berija (Sohn des sowjetischen Geheimdienstchefs Berija)

Aus dem Buch:

Dieses Buch schließt sich an seine Vorgänger „Logik der Mächte“ und „Fünf plus Zwei – die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ an. Es läßt sich in gewisser Weise als deren Fortsetzung und Erläuterung verstehen. Deshalb seien hier noch einmal die Konsequenzen aus der bisherigen Darstellung erläutert.:

Gezeigt werden sollte, daß Hitlers Politik in den Jahren 1938/39 an jenem festen Plan orientiert war, den er im November 1937 bei der Hoßbach–Besprechung als sein „Testament“ verkündet hat und den er im Winter 1938/39 weitgehend erfüllt sah. Er hätte diesen Plan möglicherweise auch gewaltsam verfolgt, wie er es eben im November 1937 für die Mitte der vierziger Jahre in Aussicht gestellt hat. Das erwies sich aber als unnötig, da die dort genannten Ziele, also der Anschluß Österreichs und des deutsch–tschechischen Westens der Tschechoslowakei an Deutschland während des Jahres 1938 gewaltfrei erreicht wurden und damit die von Hitler im November 1937 skizzierte „Lösung des deutschen Raumproblems inmitten Europas“ bereits vollzogen war.

Diese Gebietsgewinne sollten nach seiner Aussage für mindestens zwanzig Jahre ausreichen. Folglich brauchte Hitler den Krieg im Jahr 1939 nicht zu „entfesseln“ und hat dies auch nicht getan, sondern verstrickte sich gemeinsam mit der polnischen, britischen und französischen Regierung im Netz der Wünsche, Intrigen und Notwendigkeiten, wie sie sich aus dem Anspruch auf souveräne Machtpolitik ergaben. Letzten Endes zogen die Beteiligen zur Wahrung dieser Fiktion in den Krieg, der deshalb richtig als „Letzter Europäischer Krieg“ bezeichnet worden ist. Wie wenig dieser Krieg und seine Fortführung nun in deutschem Interesse und in der Absicht der nationalsozialistischen Regierung lagen, zeigten ihre zahlreichen Versuche, ihn zum Stehen zu bringen. Was im März 1939 begonnen hatte, war außer Kontrolle geraten:

„Der Führer grübelt über die Lösung der Frage Danzig nach. Er will es bei Polen mit etwas Druck versuchen und hofft, daß es darauf reagiert. Aber wir müssen in den sauren Apfel beißen und Polens Grenzen garantieren.“[ii]

Mit dieser Grenzgarantie sollte die Anerkennungswelle abgeschlossen werden, mit der die deutsche Politik nach dem Münchener Abkommen ihre Nachbarn förmlich überzogen hatte.[iii] Dabei blieb es. In den „sauren Apfel zu beißen und Polens Grenzen zu akzeptieren“, das lag auch dem am 31. August 1939 an Polen ergangenen Angebot zugrunde, im Austausch gegen Danzig nach einer Volksabstimmung die bestehenden polnischen Grenzen zu akzeptieren, jenem Angebot, das sowohl der englische Botschafter wie sein polnischer Kollege wegen plötzlicher Hörschwierigkeiten nicht „verstanden“ haben wollten.[iv] Das bot Anlaß zu jahrzehntelangem Abstreiten dieses Angebots, weil Außenminister Ribbentrop angeblich zu schnell gesprochen habe. Tatsächlich hatten der englische Gesandte sowohl wie die englische Regierung durchaus verstanden. Premier Chamberlain glaubte daran, daß Hitler sich bemühte:

„Ich glaube, er wollte ernsthaft ein Abkommen mit uns und arbeitete ernsthaft an Vorschlägen … die aus seiner einseitigen Sicht geradezu unfaßbar großzügig aussehen mußten.“ [v]

Dennoch zeigte Chamberlain sich entschlossen, den Krieg gegen Deutschland jetzt aufzunehmen, unabhängig vom Inhalt dieser Vorschläge. Auch wenn es ein Unglück war, daß Danzig der unmittelbare Anlaß der Explosion wurde: „Die Briten konnten nicht auf die nächste Gelegenheit warten.“[vi] Neville Chamberlain persönlich hatte jedoch seinen Kredit zweifellos so weit aufgebraucht, daß ihm die politische Stärke für ein weiteres Abkommen mit Deutschland fehlte, selbst wenn die polnische Regierung in irgend einer Weise bereit gewesen wäre, auf einen solchen Ausgleich einzugehen. Was die englische Diplomatie anging, so gab diese Ignoranz gegenüber Kompromissen mit Deutschland in der Nachfolgezeit weiterhin das leitende Muster vor. In den dramaturgischen Begriffen der amerikanischen Filmindustrie ausgedrückt, wäre die deutsche Politik nach 1939 ein unerbittlicher „Down“, das heißt eine Geschichte, die den Protagonisten trotz seiner Bemühungen und zwischenzeitlicher Erfolge schließlich unausweichlich zum Untergang führt.

Offen oder geheim, Hitlers Versuche, diesen „Down“ diplomatisch zum Halten zu bringen, blieben erfolglos. Militärische Siege blieben wirkungslos. Ob Hitler über Fritz Hesse der Londoner Regierung am 2. September 1939 den Rückzug aus Polen anbieten ließ, Franklin D. Roosevelts diplomatischem Sonderbeauftragten Sumner Welles erneut Zugeständnisse in Wirtschaftsfragen sowie Rückzugsbereitschaft aus Polen in Aussicht stellte, es nützte nichts. Hermann Görings Anlauf, die Schockwirkung der ersten deutschen Siege in Frankreich im Mai 1940 dazu zu nutzen, die französische Regierung zu Friedensgesprächen zu bewegen,[vii] fanden ebensowenig ein Echo, wie die nach dem Ende des Frankreichfeldzugs an England übermittelten Bedingungen, die der englische Botschafter in Washington, wie bereits erwähnt, „höchst zufriedenstellend“ fand.[viii]

So konnte der damalige Finanzminister Reynaud, der bald der Premierminister der Niederlage von 1940 werden sollte, gegenüber dem britischen Politiker Harold Nicolson kurz nach Kriegsausbruch noch viel weiter gehen als seine Militärs zu Friedenszeiten:

„Wir haben sie (die Deutschen, d. Verf.) bereits am Wickel und sie wissen das auch ! …. Es ist völlig unvermeidlich und Sie wissen, ich würde das nicht zu ihnen sagen, der Sie früher meine Zweifel geteilt haben, wenn ich das nicht wirklich glaubte. Dann würde ich Ihnen sagen: „Wir müssen großen Gefahren begegnen.“  Das sage ich Ihnen jetzt nicht. Ich sage: „Wir müssen uns auf den unausweichlichen Sieg vorbereiten.“[ix]

Das wurde dann nichts – vorerst einmal.


[i] Zit. n. Thomas, Rüstungswirtschaft, S. 509.

[ii] Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/6, S. 300, 25. März 1939.

[iii] Mit Ausnahme der „Tschecho-Slowakei“, deren Grenzen auch nach München nicht anerkannt wurden.

[iv] Vgl. Scheil, Logik, S. 212-222: „Von der plötzlichen Hörschwäche unter Diplomaten“.

[v] Zit. n. Hyde, Chamberlain, S. 145.

[vi] So schrieb ein wohlwollender Beobachter wie Robert Ingrimm nach dem Krieg. Vgl. Ingrimm, Auflösung, S. 222.

[vii] Göring schickte Raoul Nordling, den schwedischen Generalkonsul in Paris zu Reynaud: „Sagen Sie Herrn Paul Reynaud, daß nichts mehr den Lauf der Ereignisse ändern wird. Unsere Panzerdivisionen haben gestern die Maasfront durchbrochen. Ende des Monats werden wir Calais und Dünkirchen genommen haben.“ Und dann… Göring machte eine unbestimmte Geste und fuhr fort: „Herr Reynaud soll uns sofort Waffenstillstandsvorschläge machen. Wir sind bereit, Frankreich vernünftige Bedingungen zu bewilligen. Wenn er die Besetzung und Zerstörung seines Landes verhüten will, möge er sich beeilen. In ein paar Wochen wird es zu spät sein. Das Angebot, das ich ihm heute zu machen ermächtigt bin, wird nicht erneuert werden. Je länger Frankreich zögert, die offenbaren Tatsachen anzuerkennen, desto härter werden unsere Bedingungen sein.“ Zit. n. Benoist-Mechin, Himmel, S. 122. Zu den Hintergründen vgl. Scheil, Entfesselung, S. 455.

[viii] Vgl. Scheil, Entfesselung, S. 486 ff., sowie Nicolson, Tagebücher, S. 399. Dazu auch Ulrich Schlie, der auf eine der ersten Nachkriegsaussagen Ribbentrops hinweist, nach der er Ende Juni 1940 mit der Ausarbeitung eines ausführlichen Friedensangebots begonnen habe. Vgl. Schlie, Friede, S. 248; die Aussage Ribbentrops vom 23. August 1945 in: NA Washington, RG 319, XE 000 887.

[ix] Zit. n. Nicolson, Briefe, S. 354.


[i] Zit. n. Berija, Kremlin, S. 64.

[ii] Zit. n. Molotov, Politics, S. 23.