Transatlantische Wechselwirkungen

Der Elitenwechsel in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945

„Man muß eine Elite schaffen, die ganz auf Amerika eingestellt ist. Diese Elite darf andererseits nicht so beschaffen sein, daß sie im deutschen Volk selber kein Vertrauen mehr genießt und als bestochen gilt.“

Max Horkheimer

Aus dem Buch: Elitenbildung als „abschließende Kriegshandlung“

Dies ist eine Studie über die Bildungspolitik, die Elitenbildung und die Entstehung von Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik nach 1945. Daß sie von einem Historiker ausgearbeitet wurde, der vorwiegend über die internationalen Beziehungen vor 1945 publiziert hat, mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Tatsächlich kam mir der Gedanke zu diesem Projekt während der Arbeit an „Churchill, Hitler und der Antisemitismus“, meiner 2008 erschienenen Studie über die internationale Politik der unmittelbaren Vorkriegszeit und das Innenleben der Netzwerke der erklärten Gegner des Nationalsozialismus. Dort ging es sowohl um die deutsche Diktatur als auch um ihre politischen Feinde, vorwiegend in den Jahren 1938/39, aber nicht nur in diesem Zeitraum.[1]

Im Rahmen der Recherche traten etliche Namen und Vorgänge in Erscheinung, die mir aus anderen Zusammenhängen bekannt waren und auch Fakten aus der Nachkriegszeit, die mir eher neu waren. Es deuteten sich letztlich Kontinuitäten politischer und gesellschaftlicher Konflikte an, die aus den dreißiger Jahren über 1945 hinausreichten. Daher bot es sich an, diese Kontinuitäten mit den Methoden des Diplomatiehistorikers näher zu untersuchen, unter dem Aspekt, Bildungspolitik und Elitenbildung als Ausdruck von Machtverhältnissen zu begreifen und damit für den hier vorliegenden Fall der neudeutschen Elitenbildung letztlich als Teil der bewußten Siegessicherung, also als abschließende Kriegshandlung.

Aus dieser Annahme ergibt sich zugleich die Perspektive der Darstellung, die den Versuch unternimmt, den Vorgang in allen Teilen des besiegten Kriegsgegners zu untersuchen, territorial gesehen also innerhalb der deutschen Vorkriegsgrenzen. Insofern ist dies nicht nur eine Studie über die Bundesrepublik Deutschland, wenn auch Westdeutschland den bei weitem größten Raum einnimmt. Damit wird insofern etwas Neuland betreten, als die deutsche Zeitgeschichte, so weit diese Frage thematisiert wird, sich in der Regel auf die beiden 1990 vereinigten Nachfolgestaaten DDR und BRD begrenzt. [2] Auch dies stellte angesichts der politischen Teilung beider Staaten jahrzehntelang keine Selbstverständlichkeit dar, während eine Forschungsperspektive, die den deutschen Staat von 1939 für die Zeit nach 1945 als Ganzes im Blick behielt, erst recht ungewöhnlich erschien. Das besetzte und geteilte Deutschland des Kalten Krieges blieb für die zeitgeschichtliche Forschung in gewisser Weise eine „unbekannte Größe“, eine Beobachtung, die Ernst Nolte mit Blick auf das vorhandene Wissen über Deutschland bereits für die Zeit vor 1939 formuliert hat, so daß „die ‚Teilung Deutschlands‘ nach 1945 nicht als etwas Neues und Überraschendes, sondern als die prononcierteste Gestalt des ‚Unbekanntseins‘ Deutschlands“ begreifbar wurde.[3]

Die dafür zeitgenössisch geprägten Begriffe einer „Reorientation“ oder „Reeducation“[4] des Besiegten sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend von dem ebenso neutraleren wie weiteren Begriff der „cultural diplomacy“ abgelöst worden. „Reeducation“ war als Begriff auf Seiten der westlichen Alliierten bereits in der Frühphase des Zweiten Weltkriegs entwickelt worden. Zu den ersten, die ihn verwendeten, gehörte mit Henry Wickham Steed auch eine Person aus der unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges, die als ein führender Teil des Winston Churchill tragenden „Focus“-Netzwerks an seiner politischen und publizistischen Vorbereitung beteiligt gewesen war.[5] Steed repräsentierte vor 1939 den anti-nationalsozialistischen Kurs seiner Lobbygruppe, agierte aber sogar bereits während des Ersten Weltkriegs als „Foreign Editor“ der Londoner „Times“, als Verantwortlicher für die außenpolitischen Stellungnahmen der regierungsnahen Zeitung und als Mitdelegierter bei den Friedensverhandlungen von Versailles. Er schrieb sich selbst eine führende Rolle bei der Zerschlagung Österreich-Ungarns zu und nahm ganz allgemein eine sehr kritische Haltung gegen die Möglichkeit deutscher oder besser „pangermanischer“ Großmachtpolitik ein, deren negative Seiten er zwischen 1914 und 1939 allerdings auch durch die Produktion von Gerüchten und gefälschten Dokumenten aufzeigen wollte, die teilweise bis auf den Schreibtisch des amerikanischen Präsidenten gelangten.[6]

Das letzte Ziel bestand für Steed ähnlich wie für Churchill darin, die Deutschen endgültig von der Idee abzubringen, eine souveräne Größe auf dem internationalen Parkett sein zu können. Für Churchill bestand die Lösung in einer Teilung Deutschlands, wie sie vor 1866 bestanden hatte. Dies formulierte er in zahlreichen Gesprächen gegenüber seinen Mitarbeitern und alliierten Politikern. In einem 1940 veröffentlichten Text über „die fünfte Waffe“, womit die Propaganda in Zeiten des Krieges gemeint war, nahm dagegen bei Steed die Re-Education eine zentrale Rolle ein: „Ein langer Prozeß der Re-Education unter irgendeiner Form von Überwachung wird nötig sein, um bei den Deutschen diese Ansichten auszurotten und sie durch andere zu ersetzen, die bisher die aufgeklärten Deutschen vergeblich ihren Landsleuten nahezubringen versucht haben.“


[1] Stefan Scheil: Churchill, Hitler und der Antisemitismus – Die deutsche Diktatur, ihre politischen Gegner und die europäische Krise der Jahre 1938/39, Berlin 2009.

[2] Vgl. Bauerkämper, Zeitgeschichte, passim; sowie Jarausch, Teile, passim. Zur Kritik an dieser Festsetzung vgl. unten das Kapitel „Nationalfragen“.

[3] Vgl. Nolte, Deutschland, S. 53.

[4] Eine scharfe inhaltliche Trennung zwischen beiden Begriffen läßt sich kaum ziehen. In zeitlicher Abfolge setzte sich schließlich Reorientation gegenüber Reeducation durch, doch „die große Linie der Politik blieb die gleiche“. Vgl. Kellermann, Reorientierungsprogramm, S. 86 f. bzw. S. 95. Beobachtungen wie die von Hermann Schnell, es sei territorial getrennt in der Bundesrepublik von Reeducation, in Österreich aber von Reorientation gesprochen worden, entsprechen eher den intellektuellen Abnabelungsversuchen des „Österreichbewußtseins“ als der Quellenlage. Vgl. Schnell, Bildungspolitik, S. 37.

[5] Henry Wickham Steed (1871-1956), Journalist, Politiker und Historiker.

[6] Diese auch bei anderen Personen zu beobachtende Kontinuität gehörte mit zu den Entstehungsursachen dieser Studie. Zu Steeds Aktivitäten und seiner Rolle bei der Verbreitung gefälschter Dokumente zwischen 1914 und 1939 vgl. Scheil, Krise, Kap. IV/A bzw. Kap. VIII/B.