Oder: Die Verlockung des nationalen Aufbruchs
„Ich war sehr in Versuchung, mich in irgendeiner Form nach 1933 jener Bewegung anzuschließen. Aber das hatte nicht das Geringste mit den Meinungen dieser Leute zu tun, sondern nur mit jener elementaren Reaktion auf das, was Wilhelm Kütemeyer die Pseudoausgießung des Heiligen Geistes im Jahr 1933 genannt hat.“
Carl Friedrich von Weizsäcker
Aus dem Buch:
„Am Anfang eines Forschungsunternehmens steht stets die Frage nach dem möglichen Erkenntnisgewinn. Was kann eine politische Biographie über Joachim von Ribbentrop leisten, was von anderen noch nicht geleistet wurde? Die Antwort auf diese Frage läßt sich zunächst auf zwei Ebenen geben. Eine davon betrifft das Gesamtbild der Epoche: Sowohl über die von Ribbentrop persönlich zu verantwortende Politik wie über die internationalen Verhältnisse seiner Zeit herrschen zahlreiche unzutreffende Vorstellungen. Dies wurde in den bisher vom Autor dieser Zeilen vorgelegten Veröffentlichungen bereits dargelegt und in einer mehrbändigen Gesamtdarstellung korrigiert.[1]
Auf dieser Vorarbeit beruht auch die jetzt hier vorgelegte biographische Studie, die diese Zeiten nun aus dem Blickwinkel einer einzelnen Person untersucht. Diese Perspektive rückt einige Fakten in den Vordergrund, die bisher weniger beachtet wurden, während andere, von denen die Person Joachim von Ribbentrop nicht berührt war, in den Hintergrund zurücktreten. Noch einmal aber wird auf dieser Ebene deutlich werden, in welchem Ausmaß deutsche Außenpolitik mit den Zielen und Bedrohungen durch andere Staaten zu rechnen hatte und daß sie viel häufiger reagierte als agierte.
Die zweite Ebene ist die der Person in ihrem Umfeld. Am politischen Leben und Handeln von Joachim von Ribbentrop lassen sich gleich mehrere Phänomene und Entwicklungen aufzeigen, die zeittypisch sind. Da ist zum einen das Phänomen des Quereinsteigers in die Politik, der vergleichsweise spät und als Außenseiter in die politische Führungsschicht des Nationalsozialismus einstieg. Er hatte zu diesem Zeitpunkt als Großhandelskaufmann sein Vermögen und seine gesellschaftliche Stellung bis hin zu weitgehender Unabhängigkeit ausgebaut. Als parteipolitisch agierender Mensch war er dagegen bis dahin nicht in Erscheinung getreten.
Alles spricht dafür, daß JvR – wie wir ihn gelegentlich nennen wollen – in politisch weniger aufgeregten Zeiten als den Jahren 1929 bis 1932 seine Geschäfte als Privatmann weiter betrieben hätte. Da diese Zeiten nun aber einmal aufgewühlt und unsicher waren, stellte er sich den Nationalsozialisten offenbar aus einer Mischung aus Ehrgeiz und Nationalgefühl zur Verfügung, wie sie für die damalige Zeit nicht untypisch war.
Es herrschte in Deutschland verbreitet der Eindruck, daß die alten Eliten, die wilhelminische ebenso wie die der Weimarer Republik, den deutschen Nationalstaat in eine ausweglose Lage geführt hatten. Der Krieg von 1914 bis 1918 war ebenso verlorengegangen wie der Frieden von 1919 bis 1929. Die „nationale Erhebung“, als die der aufkommende Nationalsozialismus damals verbreitet gedeutet wurde und sich auch selbst empfand, schien hier einen Ausweg zu bieten. Wer dies nicht positiv empfinden konnte, sondern allenfalls als Ausdruck einer ausweglosen Lage, dessen Stimmungslage kam die Wahlkampfstrategie der NSDAP ebenfalls entgegen. „Unsere letzte Hoffnung: Hitler“ plakatierte man im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1932 und zeigte auf dem Plakat graue und ausgemergelte Gestalten aller Schichten.[2]
Das reichte zu keinem Zeitpunkt und auch nicht in diesem Präsidentschaftswahlkampf für eine Stimmenmehrheit der NSDAP, aber es ließ die nationalsozialistische Partei tatsächlich in alle Schichten und Milieus eindringen. Sie wurde damit – wahlsoziologisch gesehen – zur ersten deutschen Volkspartei[3] und für viele, unter ihnen Joachim von Ribbentrop, tatsächlich zur Verkörperung eines nationalen Aufbruchs. Der außenpolitische Aspekt dieses Neuanfangs reizte Ribbentrop offenkundig von Beginn an besonders.
Die vorliegende Darstellung wird deshalb darauf beruhen, Ribbentrops Politik als Teil des von Regierungs-, Staats- und Parteichef Hitler betriebenen Versuchs aufzuzeigen, unter nationalsozialistischen Vorzeichen eine Restauration des deutschen Reichs in seinen historischen Grenzen herzustellen, also in etwa in den Grenzen des Deutschen Bundes bis 1866. Diese Absicht, einen bisher so noch nie dagewesenen deutschen Zentralstaat in Mitteleuropa zu errichten, stellte die europäische Staatenwelt natürlich vor ein Akzeptanzproblem. Sie fand auch militante Gegner, unter anderem in Großbritannien, wie Ribbentrop persönlich zu spüren bekam.“
[1] Insbesondere in den vier Bänden: Logik der Mächte – Europas Problem mit der Globalisierung der Politik, Berlin 1999; Fünf plus Zwei, Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2009; 1940/41 – die Eskalation des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2011; Churchill, Hitler und der Antisemitismus – Die deutsche Diktatur, ihre politischen Gegner und die europäische Krise der Jahre 1938/39, Berlin 2009.
[2] http://www.annefrank.org/de/Subsites/Zeitleiste-/Zwischenkriegszeit-1918-1939/Anne-Franks-Geburt/1932/Ein-Naziplakat-fur-die-Wahl-des-Reichsprasidenten-Der-Text-lautet-Unsere-letzte-Hoffnung-Hitler/#!/de/Subsites/Zeitleiste-/Zwischenkriegszeit-1918-1939/Anne-Franks-Geburt/1932/Ein-Naziplakat-fur-die-Wahl-des-Reichsprasidenten-Der-Text-lautet-Unsere-letzte-Hoffnung-Hitler/
[3] Vgl. Falter, Wähler, S. 371.