Revisionismus und Demokratie

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Oder: Ein kurzer Versuch darüber, weshalb eine tatsachengerechte, realistische Zeitgeschichtsschreibung der Demokratie in der Bundesrepublik nicht schaden muss. Und warum viele Legenden über die Kriege der ersten Hälfte des 20. Jhdts. ihre verdiente Verachtung auch endlich erhalten sollten.

Kann andererseits natürlich auch als Mahnung gelesen werden. Die geschichtspolitischen Kapriolen der gegenwärtigen Berliner Republik schaden ihr sehr wohl, der Demokratie.

Aus dem Buch:

Unter Revision und Revisionismus sollen im weiteren, wie bereits angedeutet, zwei verschiedene Qualitätsstufen ein und desselben Vorgangs verstanden werden. Die Revision, also der erneute kritische Blick auf einen scheinbar bereits bekannten Vorgang, gehört zu den täglichen Aufgaben des Historikers. Daraus kann Revisionismus entstehen, wenn neue Tatsachen von bedeutendem Gewicht bekannt werden, oder wenn die bereits bekannten Fakten sich in großem Umfang auf eine andere Art als bisher deuten lassen. Revisionistische Geschichtsschreibung erhebt den Anspruch auf eine umfassende Neudeutung eines bedeutenden Ausschnitts der Vergangenheit. Dies ist für sich genommen keineswegs zwingend ein politischer Vorgang. Er kann dies aber dort werden, wo die umfassende Neudeutung in Bereiche eindringt, deren Auslegung das aktuelle politische Interesse berührt und selbstredend auch dann, wenn eine Gruppe von Historikern sich mit der Absicht an die Arbeit macht, politische Wirkungen zu erzielen. Dabei sind auch weit zurückliegende Begebenheiten nicht prinzipiell vor Politisierung geschützt.

Neben dem genannten formalen Kriterium ist es aus Gründen, die wir gleich noch erörtern werden, sinnvoll, ein inhaltliches hinzuzufügen. Unter historischem Revisionismus wird heute im allgemeinen eine Geschichtsschreibung verstanden, die sich gegen das verbreitete, innerhalb der OSZE-Staaten vielleicht besser als „herrschend“ zu bezeichnende Geschichtsbild richtet, das den Westen, im Kern die angelsächsische Welt und Frankreich, historisch im Recht sieht. Ihre demokratische politische Verfassung, ihre Wirtschaftsform und ihr vom Prinzip der individuellen Menschenrechte getragenes Wertesystem seien nach diesem Geschichtsbild das Ziel, das am „Ende der Geschichte“, also der politischen Entwicklungsphase der Menschheit stehen würde und auch stehen solle. Zwar hat sich mittlerweile der Eindruck durchgesetzt, dieses Ende sei zu Beginn der neunziger Jahre nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion etwas voreilig ausgerufen worden, doch an der verbreiteten grundsätzlichen Auffassung, die Geschichte laufe darauf zu, hat dies nichts geändert.

Dieses Geschichtsbild deutet die Zeitläufe spätestens ab der Mitte der achtzehnten Jahrhunderts als erfolgreiche Durchsetzung westlicher Werte im Rahmen der amerikanischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeit ab 1776, der Französischen Revolution von 1789 und dem als inhaltlich gleichlaufende, aber subtilere Evolution aufgefassten politischen Prozeß in Großbritannien. Schließlich fand demnach dieser Prozeß in einer weiteren großen Revolution seine Fortführung, in den Weltkriegen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Zu den Einzelpunkten der historischen Entwicklung gehört zu diesem Geschichtsbild beispielsweise die Auffassung, die Ausbreitung der USA über den Nordamerikanischen Kontinent sei eine zivilisierende Erfolgsgeschichte, oder die englischen und französischen Kolonialreiche hätten bei aller Kritik an ihrer Herrschaftspraxis doch einen kulturellen – und als solchen auch beabsichtigten – Fortschritt in die richtige Richtung in den kolonisierten Ländern gebracht. In Fragen von Krieg und Frieden werden allgemein die Kriegsgegner der westlichen Staaten als Rückständig und als sowohl wegen Detailfragen der Kriegsschuld wie aus prinzipiellen Gründen im Unrecht befindliche Gegner betrachtet. Insbesondere auf die Festlegung der Schuldfrage wird dabei Wert gelegt.

Insgesamt liegt demnach eine ethisch-moralische Erfolgsgeschichte vor, begleitet und bestätigt von wirtschaftlicher Prosperität, kultureller Attraktivität und militärisch-machtpolitischen Erfolgen. Die russische Oktoberrevolution von 1917 und allgemein der Sozialismus gelten in diesem Bild vorwiegend als radikaler und verirrter Nebenzweig des an sich richtigen Weges. So proklamierten doch auch die siegreichen Sowjets die Demokratie, das Wohl des Individuums, das Menschenrecht und das allgemeine Wahlrecht. Sie seien jedoch mit dem Versuch, zunächst mit den Mitteln der Diktatur des Proletariats, der Partei und der Großbürokratie die materielle Gleichheit zu erzwingen, statt individuelle Freiheit zu fördern und den konsequenterweise fehlenden rechtsstaatlichen Elementen ihrer Herrschaft in die Irre gegangen. Dennoch fanden Lenin und seine Nachfolger trotz ihrer bekannten Massenverbrechen schon zu Lebzeiten immer wieder rhetorisch den Anschluß an westliche Werte und traten phasenweise auch machtpolitisch auf die richtige Seite, als der Westen zwischen 1937 und 1945 seine Widersacher in Europa und Asien niederkämpfte.

So erhält der damals real existierende Sozialismus als Sieger des Zweiten Weltkriegs einen Anteil am historischen Recht des Westens und an der Selbstdefinition der Bundesrepublik Deutschland, auf der Basis einer 1945 erfolgten Befreiung zu existieren. Daher überrascht es nicht, wenn die russische Oktoberrevolution heutzutage etwa in deutschen Schulbüchern als traditionsfähiger Aspekt des Fortschritts der Menschheit präsentiert wird, gescheitert an den oben angesprochenen internen Mängeln, vor allem aber an den Strategien eines machtversessenen Politikers wie Joseph Stalin. Sie sei aber letztlich unter dessen spätem Nachfolger Gorbatschow einsichtig gewesen und geradezu hauptverantwortlich für die wiedergewonnene Einheit einer westlich geprägten Bundesrepublik Deutschland, in die auch das sozialistische Erbe zu integrieren sei.