Polens Zwischenkrieg

Das Großmachtstreben war der Fluch unserer politischen Linie. (…) Die polnische Großmachtpolitik verzichtete nicht auf Konzepte für eine Abtrennung der Ukraine und des Kaukasus von Rußland und formulierte weiterhin das Ziel, sich Danzig, wenn nicht gar Ostpreußen einzuverleiben. Gewisse Aktivitäten in dieser Richtung, die sich am besten als Eiertanz bezeichnen lassen, wurden durchaus von staatlichen Stellen oder von staatlich finanzierten Institutionen unternommen. Die Öffentlichkeit war darauf unglaublich stolz und sehr zufrieden damit.“

Michał Łubienski, Kanzleichef des polnischen Außenministers

Aus dem Vorwort:

„Ob die Ermittlung und Feststellung historischer Tatsachen auf den Leser und die Öffentlichkeit allgemein versöhnend oder aufreizend wirken, hat der Autor Fall nur sehr begrenzt in der Hand. Immerhin möchte ich an dieser Stelle die Hoffnung ausdrücken, daß die künftige Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen von dauerhafter und gedeihlicher Zusammenarbeit geprägt sein möge. Die hier im Folgenden ausgebreiteten Erkenntnisse sollten dem nicht im Weg stehen.“

Aus dem Fazit:

„Zu den Besonderheiten des damaligen polnischen Nationalgedankens gehörte die Ansicht, durch den Lauf der Geschichte um wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten betrogen worden zu sein, und die damit verbundene Schlußfolgerung, diese ungerechte Entwicklung sei mit den Mitteln des zwanzigsten Jahrhunderts zu korrigieren. Dieser radikale und expansive Nationalismus hatte sich seit dem neunzehnten Jahrhundert unter den Bedingungen der staatlichen Nichtexistenz Polens entwickeln können. Er prägte die inneren Verhältnisse Polens, wobei die verschiedenen Konzeptionen der Nationaldemokraten und des Piłsudski-Lagers seit Mitte der 1930er Jahre weitgehend zu einem Gesamtkonzept verschmolzen. Eine bedeutende Rolle spielte darin eine „eliminatorische“ Haltung gegen die deutschen und jüdischen Volksgruppen im Land. Zusammen mit weiteren Merkmalen, wie der verbreiteten Ablehnung des Parlamentarismus, der Hochschätzung des Soldatischen, ganz besonders des Veteranentums aus dem Ersten Weltkrieg, kann das Zwischenkriegspolen deshalb unter Berücksichtigung der besonderen polnischen Verhältnisse als faschistischer Staat eingestuft werden.

Eine weitere Eigentümlichkeit der inneren Verhältnisse bildete die starke Fixierung der polnischen Elite auf die Anerkennung im Westen. Die polnische Politik richtete sich darauf aus, in den westlichen Hauptstädten grundsätzliche Anerkennung als Großmacht zu erreichen. Das sollte unter anderem dazu führen, daß die Republik Polen in den Augen der westlichen Politiker mit Blick auf Deutschland die frühere Rolle Rußlands einnehmen könnte. Polens Politik richtete sich zudem ganz praktisch danach, welche grundsätzliche Haltung die Westmächte in der deutschen Frage einnehmen würden. Die langfristige polnische Politik, wie sie schließlich von Józef Piłsudski entworfen und dann von seinem ausgewählten Nachfolger Józef Beck durchgeführt wurde, drehte sich im wesentlichen um diese Frage. Sie ging im Grundsatz davon aus, die Westmächte würden zu gegebener Zeit gegen den deutschen Großmachtanspruch auftreten und Polen würde davon profitieren können. Diese Situation schien mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und der folgenden deutschen Revisionspolitik früher oder später eintreten zu müssen.

Getreu dieser Konzeption bot die polnische Regierung bei wesentlichen deutschen Schritten gegen die Nachkriegsordnung – wie etwa im Umfeld des nationalsozialistischen Machtantritts, bei der Rheinlandbesetzung, im Vorfeld der Tschechoslowakeikrise 1938 – in den westlichen Hauptstädten immer wieder an, militärische Maßnahmen gegen Deutschland mittragen zu wollen. Dies geschah stets unter der Bedingung, daß die Westmächte in einem solchen Konflikt als erstes auftreten müßten bzw. sich verbimdlich für einen kämpferischen Kurs gegen Deutschland entscheiden müßten. Dann würde Polen nachziehen, was sich 1938 in der Maxime des Außenminister Beck niederschlug, „im Frieden mit, im Krieg gegen Hitler“ aufzutreten.

Diese Bedingung wurde von den Westmächten schließlich nur scheinbar erfüllt. Die im Jahr 1939 mit Polen getroffenen Vereinbarungen verpflichteten Frankreich und Großbritannien sowohl zur Kriegserklärung an Deutschland als auch zu sofortigem aktivem militärischem Beistand. Von diesen Zusicherungen wurde nur die erste gehalten. Das geschah wegen der Annahme, daß nicht Polen, sondern Rußland die Großmacht sei, die Frankreich und Großbritannien im Zweifelsfall als den entscheidenden Ansprechpartner einstufen mußten, unabhängig von dessen sozialistischer, antidemokratischer Regierungsform in der Verfassung als Sowjetunion. Die Bemühungen der polnischen Diplomatie, Polen im Westen für den Fall kommender Konflikte mit Deutschland als eigenständige Großmacht zu verankern, waren gescheitert.

Unter diesem Gesichtspunkt wurden die englisch-französisch-sowjetischen Militärgespräche im Sommer 1939 mit dem Ziel geführt, die Republik Polen als Aufmarschgebiet sowjetischer Truppen verwenden zu können. Eine Zustimmung dazu hätte von Polen die Aufgabe des eigenen Großmachtanspruchs gefordert, also eine völlige Änderung des staatlichen Selbstverständnisses und ein Ende der von Józef Piłsudski konzipierten Außenpolitik. Dazu waren weder die polnische Staatsführung noch die Öffentlichkeit bereit. Der letztlich als Ergebnis dieser Situation ausgebrochene Weltkrieg wäre mit hoher Sicherheit vermieden worden, hätten sich die verschiedenen Parteien an die 1938/39 mit Polen geschlossenen Verträge gehalten.

Darin kann man eine gewisse Tragik der von Józef Beck verfolgten Politik sehen. Andererseits hat die vorausgegangene ambitionierte polnische Großmachtpolitik mit dazu beigetragen, das Kriegsszenario des Jahres 1939 überhaupt erst zu erzeugen. In den Monaten und Wochen vor dem Kriegsausbruch bemühte sich dann die polnische Regierung, jede noch mögliche Kompromißlösung zu vermeiden. Sie griff dazu unter anderem aktiv in die britische Innenpolitik ein und agierte gegenüber dem in Aussicht stehenden Kriegsgegner Deutschland provokant. Insofern ist sie für den schließlichen Ausbruch der Kampfhandlungen unmittelbar mit verantwortlich. Insgesamt bestätigte der Verlauf der Dinge die Unfähigkeit der europäischen Politik, eine angemessene Antwort auf die deutsche Frage und eine friedliche Reform der Versailler Nachkriegsordnung zu schaffen. Polens Zwischenkrieg war Teil dieses Szenarios.“