„Er will durchaus das wichtigste Tier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt’s ihm auch.“
Aus dem Buch:
Damit wären wir beim Jahr 1939 und beim Einfluß des Globalisierungsdrucks auf genau dieses Jahr. Mit der offiziellen Kriegserklärung der Westmächte an Deutschland ging das europäische Staatensystem am 3. September 1939 in eine lange Phase juristischer Unsicherheit über, die erst 1990 mit dem Abschluß der internationalen Verträge über die Bedingungen der deutschen Vereinigung beendet werden konnte. Die multipolare Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde nicht erst 1943 durch eine bipolare ersetzt,[2] sondern bereits vier Jahre früher.
Daß diese bipolare Phase so lange dauern sollte hing, wie bereits in „Logik der Mächte“ bemerkt, vor allem mit zwei Umständen zusammen: zum einen mit der Eigendynamik, die sich allein schon aus der bloßen juristischen Tatsache eines Kriegszustands ergibt, zum anderen mit der besonderen Konstellation dieses Zeitraums, deren Kennzeichen der unaufhaltsame Druck zweier außereuropäischer Mächte auf die europäischen Staaten wurde.[3] Diesem Druck, der sich zunächst vor allem aus der industriellen Entwicklung außereuropäischer Räume in Rußland und Nordamerika ergab und den ich an anderer Stelle als „Globalisierung der Politik“ bezeichnet habe, waren die europäischen Staaten nicht gewachsen und so zollten ihm langfristig alle ihren Tribut in Form einer generellen Absage an eine nationalstaatliche Machtpolitik aus eigener Kraft.
Die „Dritte Industrielle Revolution“ änderte diese Tatsachen später insofern, als die UdSSR ihren Part nicht mehr spielen konnte und die gleichzeitige machtpolitische Expansion von zwei Weltmächten ins Zentrum Europas, die im Jahr 1939 begonnen hatte, im Jahr 1990 beendet wurde. Weder Europa als ganzes noch einzelne europäische Staaten gewannen dabei ihre machtpolitische Souveränität zurück, der Kontinent ist aber seitdem kein Austragungsort größerer Auseinandersetzungen mehr. Insofern bilden diese fünfzig Jahre europäischer Geschichte eine geschlossene Episode.
Dieser oben skizzierte Prozeß betraf nun nicht alle Mächte gleichzeitig und in demselben Ausmaß, sondern er eröffnete im Gegenteil viele verschiedene Wege und zwischenzeitlich auch Chancen, sich als Sieger zu verstehen und manchmal sogar die Gelegenheit, es zu sein. Die Kernthese dieses Buchs ist es nun, daß die Zeit von September 1939 bis Mai 1940, also jene Phase des Zweiten Weltkriegs, die als „Sitzkrieg“, „Drole Guerre“ oder „Phoney War“ allerhand kuriose Bezeichnungen gefunden hat, ein Teil dieses Prozesses war und daß sich aus dieser Perspektive der Ablauf der Dinge besser als bisher verstehen läßt. Es wird dabei der Versuch gemacht, die Wechselwirkungen zwischen den Mächten in den Mittelpunkt zu stellen und keinen einzelnen Staat ins Zentrum der Handlung zu schieben. Das erfordert Eingrenzungen, da eine Untersuchung der Politik aller Staaten Europas – davon abgesehen, daß sie von einem Einzelnen niemals zu leisten wäre – die Sicht eher vernebeln dürfte. So konzentriert sich der Text auf jene sieben Mächte, die in diesem Zeitraum die Umgestaltung am aktivsten betreiben wollten und konnten.
[1] Zit. n. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (Von großen Ereignissen), Stuttgart 1975, S. 145.
[2] Diese 1943er Datierung geht auf Paul Kennedy zurück, der sie an den Kriegsereignissen festmacht. Vgl. Kennedy, Mächte, S. 305.
[3] Vgl. Scheil, Logik, S. 222 f.