Dissertation

Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland 1881-1912

Eine wahlgeschichtliche Untersuchung über die Vorläufer des Nationalsozialismus

Besprechung durch Ursula Hoffman, in: „Das Parlament“ vom 11.2.2000:

„Viele Forscher sehen im politischen Antisemitismus der wilhelminischen Ära eine Randerscheinung, da die antisemitischen Parteien bei den Wahlen in jener Zeit durchschnittlich nie mehr als drei Prozent der Wählerstimmen erhalten haben. Stefan Scheil kommt in seiner Studie zu einer anderen Einschätzung.

Der Autor sieht die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland von 1870 bis zum Auftreten der Deutschnationalen Partei nach dem Ersten Weltkrieg in enger Abhängigkeit von den sie unterstützenden Konservativen und den wirtschaftlichen Interessenparteien. Viele Parteien, sowohl die Christlichsozialen Adolf Stöckers, der Bund der Landwirte, der Deutsche Volksbund und die Mittelstandsvereingung und insbesondere die Deutsch-Konservativen, waren selbst antisemitisch orientiert oder standen den Zielen der Antisemiten nahe. Vielfach gehörten Mitglieder antisemitischer Parteien auch zugleich konservativ-nationalen Sammelorganisationen an. Die Sozialdemokraten wiederum waren zwar Antipoden des bürgerlichen Lagers und damit der Antisemitenparteien, dennoch waren ihnen judenfeindliche Vorurteil keineswegs fremd. Selbst katholische Zentrumspolitiker ließen sich hin und wieder zu antisemitischen Äußerungen hinreißen, wobei sie nicht selten auf traditionelle katholische Positionen zurückgriffen und den religiösen Gegensatz.

Scheil nimmt Verlauf und Ergebnisse der einzelnen Reichstagswahlen genau unter die Lupe, wertet Statistiken aus und unterzieht Erfolge und Misserfolge der Antisemiten einer genauen Analyse. Nachdrücklich betont er immer wieder, dass die antisemitische Bewegung der wilhelminischen Zeit ein Bestandteil der zersplitterten politischen Rechten gewesen sei. Unfähig, auf die neuen Phänomene des Nationalstaats und der Industrialisierung angemessen zu reagieren, hätten sie seit der Reichsgründung alle Mißstände den Juden angelastet.

Neben rassistischen Motiven hätten religiöse und wirtschaftliche Beweggründe ebenfalls eine Rolle gespielt. Ohnehin sei die antisemitische Agitation eine beliebte politische Waffe gewesen, im Kampf gegen Linksliberale und Sozialdemokraten. Zu denken gibt freilich, dass Antisemitismus in jener Zeit geradezu zum „guten Ton“ zählte und entsprechende Äußerungen im allgemeinen beifällig aufgenommen wurden. Der konservative Reichstagsabgeordnete Saalze forderte bei einer Debatte über die ersten antisemitischen Gesetzesvorschläge im Februar 1895 allen Ernstes: „Jeder gute Deutsche muß Antisemit sein.“

Zweifellos hat der Nationalsozialismus mit seiner radikalen Absage an alle Grundsätze der Menschlichkeit das Urteil über die Antisemiten des Kaiserreichs erheblich mit beeinflußt. In seinem Licht betrachtet wirken diese nicht nur als politisch, sondern auch als krasse moralische Außenseiter. Zwischen der Niederlage in den von ihnen so genannten „Judenwahlen“ von 1912 und dem Durchbruch der NSDAP bei den Reichstagswahlen von 1930 lagen nicht einmal zwanzig Jahre.

Da historische Entwicklungen selten aus dem Nichts hervorgingen, so Scheil, könne der Antisemitismus der wilhelminischen Ära, der im damaligen öffentlichen Leben so allgegenwärtig gewesen sei, durchaus als ein Vorläufer der Nationalsozialisten gelten.