Abschreckungspläne

Der Hauptbericht des deutschen Botschafters in London Ende 1937Überlegungen zum britisch-deutschen Verhältnis und wie England von einem Krieg gegen Deutschland abzuschrecken sei.

Das Interview zum Buch mit dem Nachrichtenmagazin ZUERST!

Herr Dr. Scheil, was macht den „Hauptbericht“ Joachim von Ribbentrops als deutscher Botschafter in London vom Dezember 1937 zu einem Schlüsseldokument zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges?

Nun, wenige Wochen nachdem dieser Bericht in Deutschland dem Staatschef vorgelegen hat, wurde Ribbentrop im Februar 1938 zum deutschen Außenminister ernannt. Man kann also davon ausgehen, daß der Bericht eine der Grundlagen der deutschen Politik der Jahre 1938/39 gewesen ist. Das gilt um so mehr, als die dort formulierten Ziele sich grundsätzlich mit denen Hitlers deckten, wie er sie im November 1937 formuliert hatte. Er wollte mit dem Anschluss Österreichs und Böhmen-Mährens den deutschen „Lebensraum“ für mehrere Generationen abrunden. Ribbentrop berichtete darüber, ob dies in Verhandlungen mit Großbritannien möglich sei und erachtete maximal den Anschluss Österreichs sowie eine Autonomielösung für die Sudetendeutschen innerhalb der Tschechoslowakei als friedlich erreichbar. Besonders bemerkenswert ist, daß bei beiden zu dieser Zeit nirgendwo davon die Rede ist, Lebensraum in Polen oder sonstwo östlich erobern oder erwerben zu wollen. Anders als regelmäßig kolportiert, ist der Zweite Weltkrieg schließlich nicht ausgebrochen, weil Deutschland solche Ziele verfolgt hätte.

  • Wie läßt sich das deutsch-britische Verhältnis am Vorabend des Kriegsausbruchs 1939 am besten beschreiben?

Es war durchzogen von Mißtrauen. Selbst der britische Botschafter in Berlin mahnte im Sommer 1939 seine Regierung an, angesichts der aktuellen britischen Politik müßte man in Deutschland längst den Eindruck haben, Großbritannien würde den Krieg um jeden Preis wollen. Andererseits gab es von Deutschland aus immer noch Versuche, zu einem wirtschaftlichen und politischen Ausgleich zu kommen. Das zog sich bis in die letzten Tage vor dem Krieg hin und ging selbst nach Kriegsausbruch noch weiter. Letztlich konnte die Frage über Krieg und Frieden allerdings nicht nur bilateral zwischen beiden Ländern entschieden werden. Länder wie Polen und die USA drängten massiv darauf, keine Kompromisse mit Deutschland mehr zuzulassen. Offengestanden mache er sich mehr Sorgen darüber, die Polen zur Vernunft zu bringen, als die Deutschen, ließ der britische Regierungschef in den letzten Augusttagen 1939 wissen.

  • Im Geschichtsunterricht heißt es immer, Reichskanzler Adolf Hitler hätte gegenüber Großbritannien stets eine freundschaftliche Politik verfolgt. Ist das so richtig? War Hitler „anglophil“?

Hitler bewunderte das britische Empire und hielt es in seiner weltweiten Rolle zugunsten Europas und der Europäer für absolut unersetzbar. „Anglophil“ ist aber sicher das falsche Wort, denn von britischer Lebensart, Gentlemanmanierismus und dergleichen, hielt Hitler nichts. Er verachtete das eher, befürchtete aber zugleich die Folgen einer britischen Feindschaft gegenüber Deutschland. Im Prinzip war seine Politik deshalb bis zuletzt darauf ausgerichtet, nichts zu unternehmen, was er als unannehmbar für die britische Seite ansah. „Sie können die Welt behalten“, steht wörtlich auch noch in den Tischgesprächen von 1941/42.

  • Welche Interessen verfolgten die Briten auf dem europäischen Kontinent?

Generell sollte aus Londoner Sicht in Mitteleuropa keine potentiell eigenständige und gefährliche Macht entstehen. Das bedeutete unter anderem, keine großdeutsche Einheit entstehen zu lassen. Diese politische Linie hatte sich im Londoner Außenministerium schon um 1900 entwickelt. Auch zu Weimarer Zeiten hatte man die Selbstbestimmung der Österreicher und der Sudetendeutschen verboten, die gern der Weimarer Republik beigetreten wären. Nicht alle, aber viele Prominente in der britischen Politik sahen in der deutschen Einheit überhaupt ein grundsätzliches Problem und wollten hinter 1866 zurückgehen, also wieder so etwas wie einen Deutschen Bund gründen. Natürlich war dies ein anachronistisches Ziel, dessen vorläufig letzte Konsequenzen man ja aber noch 1989/90 betrachten konnte, als aus London Widerstand selbst gegen die heutige kleinstdeutsche Einheit unter demokratischen Vorzeichen kam.

  • …und wo sahen die Briten diese Interessen durch Berlin gefährdet?

Ein deutscher Zentralstaat in den historischen Reichsgrenzen, direkt der eigenen Haustür, mit damals achtzig Millionen und bei normalem Verlauf heute eher 120 Millionen Einwohnern mußte die Weltmachtrolle der britischen Inseln zwangsläufig gefährden. Ihn zuzulassen, stellte eindeutig ein Risiko dar. Man sah in London damals nicht, daß die Unterstützung eines solchen Staates andererseits vielleicht eine Option gewesen wäre, um die eigene Stellung zu erhalten. Also hätte das Risiko einer großdeutschen Einheit, rein machtpolitisch betrachtet, auch einen gewissen Reiz haben können.

  • Mußte der deutsch-britische Gegensatz unweigerlich früher oder später zu einem Krieg führen?

Unvermeidlich sind Kriege nie. Gerade ein britisch-deutscher Krieg konnte nur zustande kommen, wenn Großbritannien über entsprechende Verbündete auf dem Kontinent verfügte. Die standen 1939 mit Frankreich und Polen bereit. Zugleich tat London viel, um potentielle deutsche Verbündete loszukaufen und erkannte deshalb 1939 sowohl formal die italienischen Eroberungen in Äthiopien als auch faktisch die japanischen in China an. Beides mit Erfolg, im September 1939 stand Deutschland alleine da.

  • Sie selbst erwähnen einen interessanten Aspekt: Laut Ribbentrop hätten alle deutschen Zusicherungen gegenüber London nur begrenzten Wert, schon weil die Briten schließlich einst unter ständiger Betonung ähnlicher eigener Zurückhaltung Stück für Stück die Welt erobert hätten. Daher müßte man laut Ribbentrop davon ausgehen, daß ein britischer Krieg gegen Deutschland höchst wahrscheinlich, möglicherweise sogar schon beschlossene Sache sei.

Dieser Gedanke zieht sich durch den ganzen Bericht: Wie kann man die Briten von den tatsächlich begrenzten Zielen Deutschlands überzeugen und somit eine Verhandlungsbasis schaffen? Ribbentrop hatte den britischen ‚Cant‘ durchschaut, also unter anderem das Gerede von Frieden und Freiheit für die kleinen Völker bei gleichzeitigem Herrschaftsanspruch über sie. Bekanntlich hat er sich damit in London nicht beliebt gemacht, wo man nicht gewohnt war, so direkt auf die eigene Heuchelei angesprochen zu werden. Als Konsequenz wurde Ribbentrop persönlich diskreditiert und mit einer Kampagne angegriffen, er würde Großbritannien völlig mißverstehen und für schwach, dekadent sowie wenig kriegslustig halten, obwohl in seinem Bericht – und nicht nur da – das genaue Gegenteil steht. Seine Beobachtung, es könnte der Krieg gegen Deutschland längst beschlossene Sache sein, traf Ende 1937 für Teile der britischen Politik sicher zu.

  • Sie sagen weiter: „Ribbentrops Rezept dagegen lautete, kurz gefaßt: Tatsachen schaffen.“ Welche Tatsachen sollten aus deutscher, außenpolitischer Sicht geschaffen werden?

Man wollte sich langfristig nicht an den territorialen Status quo des Jahres 1937 binden, darüber herrschte in Deutschland nicht nur den Reihen der Nationalsozialisten weitgehend Konsens. Es galt aus Ribbentrops Sicht also, mindestens die Vereinigung mit Österreich relativ zügig anzustreben, auch ohne die Billigung aus London. Dies stellte für ihn das Hauptziel an Gebietsveränderungen dar. Zugleich sollte ein möglichst enges politisches Einvernehmen mit Italien und Japan hergestellt werden, am Ende eine Bündniskonstellation, die formal antikommunistisch und gegen die UdSSR auftreten sollte, zugleich aber auch antibritisch verwendet werden könnte, falls nötig. Auf dieser Basis wollte Ribbentrop dann wieder mit Großbritannien über einen Ausgleich verhandeln.

  • Zwei vielleicht gewagte hypothetische Fragen: Wie hätte sich die Geschichte entwickelt, wenn das deutsch-britische Verhältnis nach deutscher „Idealvorstellung“ gestaltet hätte?

Sicher wäre die deutsche Rolle in der Welt heute eine andere, wenn die Weltkriegsära anders ausgegangen wäre oder sich hätte ganz vermeiden lassen. Was die britische Stellung als ‚Weltmacht‘ angeht, ist es sicher nicht zu gewagt, sie generell für anachronistisch zu halten. Indien etwa wäre heute in keinem Fall mehr britisch. Aber generell wäre Europa heute in jeder Weise stärker, hätte der Weltkrieg nicht stattgefunden. Was aber keine rein britisch-deutsch bilaterale Entscheidung gewesen ist, wie bereits gesagt. Angesichts der intensiven Washingtoner Einflußnahme auf den Gang der Dinge könnte man das Jahr 1939 auch als monströs gescheiterten Versuch eines ‚regime change‘ in Deutschland betrachten

Gab es in Großbritannien einflußreiche Befürworter eines solchen – hypothetischen – Kurses gegenüber Deutschland? Wer waren diese? Weshalb konnten sie sich nicht durchsetzen?

Die Zahl der britischen Befürworter eines wirklichen Zusammengehens mit Deutschland ist recht überschaubar gewesen. Immerhin gab es prominente Personen, die wenigstens vor einer Verkennung der Realität und vor einer großen Auseinandersetzung warnten. Der frühere Premier Lloyd George erklärte noch im Frühjahr 1940, das sei der – wörtlich – „dümmlichste Krieg“, den Großbritannien je geführt habe. Eine gewisse deutsche Vormachtstellung in Mittel- und Osteuropa würde in der Natur der Sache liegen. Sein früherer Privatsekretär Lord Lothian plädierte als britischer Botschafter in Washington im Sommer 1940 dafür, die deutschen Friedensangebote anzunehmen oder wenigstens gründlich zu prüfen. Warum sich diese beiden und andere nicht durchsetzen konnten, ist dann eine lange Geschichte. Auf der anderen Seite stand eben eine britische Tradition, die sich Mitteleuropa und Deutschland nur als politisches Vakuum vorstellen konnte.

Welche Rückschlüsse läßt unter anderem der „Hauptbericht“ auf eine Teilschuld Großbritanniens am Ausbruch des Krieges zu?

„Die den Status quo verteidigen sind genauso für den Krieg verantwortlich wie die, die ihn angreifen.“ Dieser Satz des britischen Historikers Edward Hallett Carr kann als Motto meiner Edition des Hauptberichts gelten. Dabei geht es für den Historiker nicht um ‚Schuld‘, sondern um den politischen Entwicklungsprozess, der zu einem Großkrieg führt. Und der ist extrem vielschichtiger als die heute immer noch meist angebotenen Thesen einer deutschen Alleinverantwortung. Es wird Zeit, diese Illusion endlich zu überwinden und sich der Tatsache zu stellen, daß die deutsche Katastrophe von 1945 wesentlich durch Entscheidungen verursacht wurde, die nicht in Deutschland gefällt wurden.