Logik der Mächte

Europas Problem mit der Globalisierung der Politik

Wo der Zweite Weltkrieg historisch einzuordnen ist – aus dem Vorwort

Nun ist Globalisierung ein sehr schillernder Begriff, der ein weites Spektrum wirtschaftlicher, kultureller und politischer Inhalte aufnehmen kann, und wenn er heute in erster Linie auf Wirtschaft und Kultur angewandt wird, so hat doch auch der nationalstaatliche Stolz auf die eigene Rolle als „global player“ schon viele Nuancen angenommen, seit Spaniens Karl V. vor bald fünfhundert Jahren verkünden ließ, in seinem Reich gehe die Sonne nicht unter. Was für den spanischen König und Kaiser noch der sichtbare Ausdruck eines politischen und religiösen Sendungsauftrags war, wurde in anderen europäischen Mächten bald als selbstverständliches Ergebnis der eigenen militärischen, kulturellen und wirtschaftlichen Überlegenheit betrachtet und die europäischen Eliten des 19. Jahrhunderts ergänzten diese Ansichten dann durch die Überzeugung von der eigenen rassischen Überlegenheit und der machtpolitischen Notwendigkeit maximaler Expansion.

Mittlerweile hat der Nationalstaat europäischer Prägung seine bedeutendste Zeit hinter sich, nicht zuletzt deshalb, weil sich jenes expansive Konzept, das um die Jahrhundertwende zu einem kurzen Zeitalter des Imperialismus und der faktischen Aufteilung der Welt unter den Europäern und Nordamerikanern führte, als nutzlos erwiesen hat. Es geht Europa nicht schlechter ohne seine Kolonien und den Kolonien in mancher Hinsicht besser ohne ihre Europäer. Der um 1900 als unvermeidlich angesehene globale Größenvergleich unter den europäischen Mächten, der gerade in Deutschland ein besonders panisches Bedürfnis nach Landerwerb auslöste, war eine Schimäre und wenn die Restbestände der globalen Präsenz in Frankreich oder Großbritannien heute noch Schlagzeilen machen, dann vorwiegend beim Streit um Bananenquoten und andere Subventionsmittel. Der europäische Nationalstaat ist kein „global player“ mehr, und der seltsame Lauf europäischer Machtpolitik endete dieses Mal in der Sackgasse. Die Globalisierung – so verstanden – blieb ein Gespenst, sie suchte sich andere Wege.

Womit die Themen dieses Essays angedeutet wären. Wie kam die europä-ische Machtpolitik an diesen Punkt? Welchen Einfluß hatten die Überzeugungen der politischen Elite von angeblichen politischen Notwendigkeiten? Wie bestimmend waren systemtheoretische Zusammenhänge? Und welche Rolle hat dies alles in den Jahren von 1919-1939 gespielt? Lassen sich die Konflikte dieser Zeit als Spannungen zwischen Globalisierung und Regionalisierung, kollektiver Sicherheit und souveräner Machtpolitik, und systemtheoretischer Notwendigkeit und chaotischer Freiheit analysieren?

Genau das wird in diesem Buch versucht und damit wird zu einem guten Teil Neuland betreten. Denn es gibt zwar nicht wenige Abhandlungen, in denen die europäische Geschichte etwa unter einem globalen oder systemtheoretischen Blickwinkel begriffen wird und einige davon sollen in diesem Buch auch vorgestellt werden. Den meisten gemeinsam ist jedoch eins: zwischen 1933 und 1939 nehmen sie ihre Thesen auf eine seltsame Weise zurück. Die Krise der dreißiger Jahre und die zunehmende Eskalation der Ereignisse bis zum Kriegsausbruch, mithin die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges scheint losgelöst von aller geschichtlichen Vergleichbarkeit als das unvermeidliche Ergebnis einer Ideologie und eines Mannes gedeutet werden zu können. So sei eine unnötige Wiederholung des Ersten Weltkrieges entstanden, unter anderen ideologischen Vorzeichen und bei nur gering veränderter Staatenkonstellation. Zugespitzt formuliert: Da in Deutschland Adolf Hitler regierte, mußte es früher oder später zum Krieg kommen.

Diese These erwies sich während der Arbeit an dieser Untersuchung als durchaus fragwürdiger, als das am Anfang abzusehen war. „Kollektive Sicherheit in Mächtesystemen. Zum Verhältnis von deutscher Aggression und Mängeln im europäischen Sicherheitssystem der dreißiger Jahre“, so hieß das Vortragsthema meines Rigorosums, und es war sehr eng der Fragestellung verhaftet, wie das Aggressionszentrum Deutschland einen Weltkrieg auslösen konnte, ohne dessen zentrale Verantwortlichkeit eigentlich in Frage zu stellen. An diesem Punkt konnte ich nicht stehenbleiben, denn aus den kurzen Essays über die Politik einzelner Mächte, die quasi als „Nebenprodukte“ dieses Vortragstextes entstanden sind, ließ sich ein Klangbild heraushören, das wesentlich mehr dem traditionellen martialischen „Konzert“ europäischer Machtpolitik glich, als einem dissonanten deutschen Solo mit verspätetem Einsatz. So entstand dieses Buch als ein Versuch über die „Logik“ dieses Konzerts der Mächte, über seine Willkür und seine Systematik und als ein Experiment, ob sich die Entstehung seiner bislang letzten Katastrophe aus einer anderen Perspektive nicht auch kohärent verstehen läßt.

Der Autor verantwortet sein Buch allein, aber er schreibt es nicht allein. Von allen, die an der Entstehung dieses Buchs Anteil gehabt haben, möchte ich ausdrücklich zunächst Prof. Dr. Gottfried Niedhart erwähnen, dem ich etliche Anregungen für Inhalt und Konzeption dieses Textes verdanke. Prof. Dr. Rudolf Lill und Prof. Dr. Klaus Hildebrand danke ich für ihre wohlwollende Kritik, und nicht zuletzt gilt mein Dank Prof. Dr. Norbert Simon für das freundliche Angebot, dieses Buch bei Duncker & Humblot zu verlegen.

Stefan Scheil